Was ist eigentlich der Staat? Das ist eine Frage, die Nicht-Juristen wohl kaum beschäftigt. Und doch ist das eine ganz entscheidende Frage. Denn die Antwort darauf sagt etwas über unser Verhältnis zum Staat aus.
Ich habe vor einigen Tagen einen Schweizer gefragt, worin er den wesentlichen Unterschied zwischen Österreich und der Schweiz sieht. Der wesentliche Unterschied liegt für ihn im Verhältnis zum Staat. Wenn man einen Schweizer fragt, was ist der Staat, dann sagt er: der Staat, das sind wir.
Stellt man diese Frage einem von uns, dann ist eher nicht damit zu rechnen, dass die Antwort gleich lautet. Viele setzen den Staat mit „denen da oben“ gleich, der Regierung, den Beamten, jedenfalls nicht mit sich selbst. Warum ist das so? Warum haben wir ein anderes Verhältnis zum Staat als etwa die Schweizer?
Ein wesentlicher Grund liegt natürlich in der Geschichte. Die Schweizer haben ihr Schicksal früh selbst in die Hand genommen und sich schon im 15. Jahrhundert gegen die Habsburger durchgesetzt. In Österreich haben die Habsburger bis 1918 geherrscht. Ein Herrscherhaus bezieht seine Bedeutung auch daraus, dass es über dem Volk steht. Das Wesen der Demokratie liegt gerade darin, dass Herrscher und Beherrschte identisch sind. Das erfordert einen Lernprozess auf beiden Seiten. Einige Jahrhunderte mehr an Erfahrung mit der Demokratie müssen sich somit auswirken.
Es verwundert daher nicht, dass die Schweiz als Vorbild genannt wird, wenn mehr direkte und damit eine lebendigere Demokratie gefordert wird. Die Gründe für diese Forderung liegen auf der Hand: Wenn die Mehrheit entscheidet, was zu geschehen hat, dann kann jedenfalls der größere Teil der Bevölkerung mit der Entscheidung leben. Wenn sich die Bürger in den Entscheidungsprozess einbringen, dann besteht eine faire Chance auf eine bessere Entscheidung, weil vielfältige Erfahrungen und Kenntnisse in die Entscheidung einfließen. Und schließlich führt die Bürgerbeteiligung dazu, dass sich die Menschen mit dem Staat identifizieren und damit auch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und nicht nur das eigene Interesse in den Vordergrund zu stellen.
Mehr Bürgerbeteiligung kann so zu einem besseren Staat und zu einem besseren Zusammenleben führen. Es muss daher im allgemeinen Interesse liegen, dass sich die Beteiligung der Bürger nicht darauf beschränkt, alle paar Jahre zur Wahl zu gehen und ihre Stimme abzugeben. Eine solche Demokratie ist eine Ein-Minuten-Demokratie, in der die Bürger in die politische Willensbildung nicht wirklich eingebunden sind. Wie erreicht man aber eine Bürgerbeteiligung, die diesen Namen auch verdient? Und zwar eine Bürgerbeteilung, bei der die Meinung der Bürger wirklich zählt und bei der sich die Bürger die Mühe machen, sich zu informieren und eine eigene Meinung zu bilden. Denn die Befragung der Bürger kann auch missbraucht werden. Beispiele, auch aus jüngster Zeit, gibt es genug. Es werden No-Na-Fragen gestellt, Fragen, die so formuliert sind, dass die Antwort klar ist. Zweck solcher Befragungen ist es auch nicht herauszufinden, was die Bürger wollen. Es werden damit andere Ziele verfolgt. Politiker schmücken sich damit, dass die Meinung der Bürger für sie wichtig sei, oder sie versuchen, mit emotionalen Themen ihre Anhänger zu mobilisieren.
Eine direkte Demokratie nach dem Vorbild der Schweiz setzt voraus, dass Politiker und Bürger verantwortungsbewusst handeln. Für die Politik heißt das: echtes Interesse an der Meinung der Bürger, um zu einer besseren Entscheidung mit breiter Zustimmung zu kommen; für die Bürger bedeutet das die Bereitschaft, sich zu informieren und sachorientiert zu entscheiden. Leichter fällt das den Bürgern, wenn sie die Entscheidung persönlich betrifft. So führt die Steuerhoheit der Schweizer Gemeinden dazu, dass den Bürgern bewusst ist, in Zukunft mehr Steuern zahlen zu müssen, wenn sie sich für ein neues Rathaus entscheiden. Das stärkt das Verantwortungsbewusstsein und ist gleichzeitig auch die wirksamste Bremse für die Staatsausgaben.